»Wir nennen das den >Blinker<.«

Sie blickte ihn argwöhnisch an. »Du meinst, daß dies schon mal gemacht wurde?«

»Es handelt sich um ein einst sehr populäres Spiel, das von einem Mathematiker namens John Conway im Jahre 1970 erfunden wurde. Er nannten es >Leben<. Ich habe mir oft langweilige Stunden damit vertrieben, indem ich atypische Konfigurationen ausarbeitete.«

»Ich habe dich nie dabei gesehen.«

Er tätschelte ihre Hand. »In meinem Kopf, meine Liebe.«

»Das würde sich ohne das >mein< viel besser anhören.«

»>In Kopf?<«

Sie drohte mit dem Finger. »>Liebe.<«

»Du wirst zweifellos kokett.« Vielleicht waren das die Nachwirkungen der Beziehungen zu Veg.

»Hatte Taler auf dem Schiff recht?«

Das Schiff. Wieder blickte er ihr in die Augen und erinnerte sich. Die Erdregierung hatte nicht auf den Bericht des Trios gewartet. Sie hatte vier Agenten nach Paleo geschickt, und die Agenten hatten die Normalen sogleich gefangengenommen und die DinosaurierEnklave zerstört. »Interessant«, hatte Taler bemerkt, während Tamme amüsiert zusah, »Dr. Potter ist noch mehr in Miss Hunt verliebt als Mr. Smith. Aber Dr. Potter weigert sich, sich dadurch beeinflussen zu lassen.«

»Ich nehme an, er hatte recht«, sagte Cal.

Sie seufzte, als ob sie als Antwort etwas mehr erwartet hätte. »Es muß mehr im Leben geben als dies.«

Er sah sie wieder an, unsicher wie sie das gemeint harte. Er entschied sich dafür, es als harmlos zu interpretieren. »Gibt es wirklich. Es gibt eine Menge Spielfiguren, von denen jede ihre Geschichte hat. Einige Muster sterben aus, andere werden so stabil wie das Quadrat. Noch andere führen Tricks .vor.«

Jetzt war sie interessiert. »Laß mich eine versuchen!«

»Gewiß, gewiß. Versuch's mit dieser.« Er zeichnete ein Tetromino, vier Punkte:

Aquilon machte sich darüber her. »Wir haben im Geiste ein Spielfeld vor uns, richtig? Die Punkte ergänzen tatsächlich Quadrate und dürfen dieselben nicht schräg miteinander verbinden, ja?«

»Genau richtig.« Jetzt, da sie begriffen hatte, um was es ging, war sie sehr schnell. Ihm gefiel das.

»Wenn dies Position eins ist, dann müssen wir für Position zwei einen, zwei, drei Punkte hinzufügen und. keinen wegnehmen.« Sie bildete die neue Figur: Sie

»Korrekt. Wie weit kannst du es verfolgen?«

konzentrierte .sich, die Zunge zwischen den Lippen. Nach einer Weile hatte sie die ganze Serie. »Sie entwickelt sich zu vier Blinkern. Hier ist die Serie.« Sie setzte die Ziffern der einzelnen Schritte in elegante Klammern, um den Gebrauch von verwirrenden Punkten zu vermeiden.


»Sehr gut. Das ist >Verkehrsampeln<«

»Faszinierend. Es funktioniert wirklich! Aber ich erkenne noch immer nicht die Beziehung zu.«

»Versuch's mit diesem«, schlug er vor und entwarf ein neues Muster: »Das ähnelt dem, das ich gerade

»Das ist das >R-Pentomino<.« gemacht habe. Du hast es hur seitlich gekippt, was keinen topologischen Unterschied ausmacht, und einen Punkt hinzugefügt.«

»Versuche es«, wiederholte er.

Sie versuchte es, um ihm den Gefallen zu tun. Aber

bald war offensichtlich, daß die Lösung keineswegs einfach war. Ihre numerierten Muster wuchsen und veränderten sich und nahmen immer mehr Raum auf der Arbeitsfläche ein. Das Problem hörte auf, lediglich interessant zu sein; es wurde zwanghaft. Cal verstand das sehr gut. Er hatte dasselbe durchgemacht. Sie hatte ihn jetzt vollkommen vergessen. Das Haar fiel ihr in attraktiver Unordnung ins Gesicht, und sie biß sich mit den Zähnen auf die Lippen.

»Was für einen Unterschied ein einziger Punkt macht«, murmelte sie.

Cal hörte etwas. Es war das Summen einer sich bewegenden Maschine. Endlich war nach dem Köder geschnappt worden! Er entfernte sich leise von Aquilon, die ihn gar nicht vermißte, und bezog Position neben der Lichtquelle. Den nächsten Schritt mußten die Mantas tun.

Die Maschine schob sich in Sichtweite. Sie war genau das, was Cal erhofft hatte: ein viellinsiger Optikspezialist, ausgestattet, ein marginal defektes Lichtmuster zu analysieren. Eine der Blenden der Maschine ähnelte einem Oszilloskop, und da schien auch eine Fernsehkamera zu sein.

Ausgezeichnet! Diese Maschine mußte aus dem Winterschlaf geholt worden sein, da Lichtchirurgie zweifellos weniger häufig war als mechanische Reparaturarbeit. Dies hier war eine effiziente Stadt, die keine Energie und keine Gerätschaften vergeudete.

Die beiden Mantas wandten sich der Maschine zu und konzentrierten sich auf sie. Cal wußte, daß sie ihre Augenstrahlen auf ihre Linsen richteten und den Versuch unternahmen, ihr verständliche Informationen zu übermitteln und ihr Kontrollsystem zu usurpieren. Wenn es jemand schaffen konnte, dann die Mantas - aber nur wenn die Maschine ausreichend hochentwickelt war.

Sie machte halt, wandte sich den Mantas zu. Ging der Plan auf? Plötzlich wirbelte die Maschine herum und unterbrach den Kontakt. Ihre Aufnahmelinse erspähte Cal. Die Schnauze eines kleinen Rohrs richtete sich mit erschreckendem Zielbewußtsein aus.

Cal empfand plötzliche Furcht. Er hatte keine physische Gefahr für sich und Aquilon erwartet und war darauf auch nicht vorbereitet. Seine Haut spannte sich. Seine Blickte huschten zur Seite, um den besten Fluchtweg ausfindig zu machen oder eine geeignete Waffe zu lokalisieren. In seinen Beinen kam es zu einem nervösen Zucken.

Er hatte mit Tyrannosaurus, dem mächtigsten Räuber unter den Dinosauriern, Verstecken gespielt. Verlor er jetzt bei einem bloßen Reparaturroboter die Nerven?

,Cal sprang zur Seite, als der Strahl eines Lasers dort ein stecknadelgroßes Loch in die Plastikwand brannte, wo er soeben noch gestanden hatte. Er hatte das Glühen des Aufwärmens gerade noch rechtzeitig erkannt. Aber jetzt war der Laser aufgewärmt und würde zu schnell für seine Reflexe schießen. Er hastete weiter, als sich die Waffe neu orientierte.

Sein Plan war fehlgeschlagen, und nun griff die Maschine an. Sie saßen böse in der Klemme!

Die Mantas versuchten das Ding abzulenken, aber es ließ nicht von Cal ab. Wohin er auch flüchtete, folgte es.

Aquilon, aus ihrer Konzentration hochgeschreckt, trat direkt in die Bahn des Lasers und hob die Hand. Ihr Kinn war hochgereckt, ihr Haar zurückgeworfen, ihr Körper gespannt und doch wunderschön in seiner beherrschten Dynamik.

»Halt!« sagte sie zu der Maschine.

Sie machte halt.

Überrascht drehte sich Cal um. Hatte die Maschine wirklich auf eine menschliche Stimme reagiert oder richtete sie sich lediglich auf ein neues Objekt aus? Aquilons Leben hing von dieser Unterscheidung ab!

Aquilon war selbst verblüfft. »Ich habe automatisch und töricht reagiert«, sagte sie. »Aber jetzt, frage ich mich, ob.« Sie sprach wieder zu der Maschine. »Folge mir«, sagte sie und begann, den Pfad entlangzugehen. Die Maschine blieb, wo sie war, unbeweglich. Nicht einmal der Laserlauf bewegte sich, obwohl er jetzt auf nichts zielte.

»Warte«, raunte Cal ihr zu. »Langsam sehe ich klar. Du hast der Maschine einen Ausschließlichkeitsbefehl gegeben.«

»Ich habe sie angewiesen, haltzumachen«, stimmte sie zu. »Ich war erschreckt. Aber wenn sie vorhin verstanden und gehorcht hat, warum nicht auch jetzt?«

»Du hast die Sprache gewechselt«, sagte er.

»Ich habe. was?«

»Als du sie das erste Mal ansprachst, hast du Körpersprache eingesetzt. Alles an dir hat zu der Botschaft beigetragen. Du bist ihr ohne erkennbare Furcht entgegengetreten, hast die Hand gehoben und einen kurzen, alles andere ausschließenden Befehl gegeben.«

»Aber ich habe Englisch gesprochen!«

»Irrelevant. Niemand könnte dich mißverstanden haben.« Er nahm ihren Arm und zog sie sanft an sich.

»Körpersprache - die Art und Weise, auf die wir uns bewegen, auf die wir etwas berühren, anblicken - die Anspannung der Muskeln, der Pulsschlag, die Atmung - die automatischen Prozesse. Die Agenten lesen durch diese unfreiwilligen Signale buchstäblich unsere Gedanken.«

»Ja«, sagte sie begreifend. »Deine Hand auf mir - sie sagt auch etwas, mehr als deine Worte.«

Er ließ sie schnell los. »Tut mir leid. Ich wollte ledig- lich, daß du verstehst.«

»Habe ich ja«, sagte sie lächelnd. »Warum macht dich das verlegen?«

»Diese Stadt ist trotz ihrer Verrücktheiten im wesentlichen menschlich. Sie wurde errichtet, um den Menschen zu dienen, vielleicht Frauen wie dir.«

»Ein Matriarchat?«

»Möglich. Jetzt sind diese Menschen verschwunden, aber die Stadt ist geblieben, produziert atembare Luft, baut eßbare Früchte an, unterhält zumindest ein gewisses omnivorisches Tierleben, als ob sie die Bedürfnisse der Mantas vorhergesehen hätte, fabriziert Dinge für den menschlichen Gebrauch. Sicherlich erinnern sich die Maschinen an ihre ehemaligen Herren!«

»Warum hat sie dich dann angegriffen?«

»Ich habe mich unfreundlich verhalten, indem ich mit Fremden gemeinsame Sache machte, die störend auf die Geschäfte der Stadt einwirkten. Ich habe die Signale eines Feindes oder eines Barbaren abgegeben - als den ich mich tatsächlich sah. Die Maschine hat entsprechend reagiert.«

Aquilon nickte. »Wir kennen also die Erbauer, nicht aber ihre Sprache.«

»Wir sind die Erbauer - auf einer anderen Variante. Vielleicht ist diese Stadt das Werk einer menschlichen Alternativwelt Tausende von Jahren in unserer Zukunft. Im Rahmen des Alternativsystems ist logischerweise davon auszugehen, daß viele Welten zeitlich sowohl vor uns als auch hinter uns liegen.«

»Dinosaurier auf der einen, Superwissenschaft auf der anderen«, stimmte sie ihm zu.

»Aber ich glaube nicht, daß die Funkenwolke ein Teil dieses menschlichen Schemas ist - wie ich schon erklärte.«

»Wie du erklärtest?«

»Das Lebens-Spiel.«

Sie schnitt eine Grimasse.

»Ich bin mit deinem R-Pentomino noch nicht zu Ende gekommen.«

»Deshalb würde ich mir keine Sorgen machen«, sagte er. »Es erreicht nach elfhundert Zügen lediglich ein Steady-State-Muster.«

»Nach elfhundert Zügen!« rief sie erbost. »Und du läßt mich ahnungslos mit einem Bleistift arbeiten.«

»Der springende Punkt ist, daß das ganze Spiel durch die Eröffnungskonfiguration bestimmt wird. Aber das bedeutet keineswegs, daß alle Eröffnungen ähnlich sind oder daß eine Fünf-Punkte-Figur bei der Auflösung nicht eindrucksvolle Komplexitäten aufweist. Die meisten einfachen Muster vergehen schnell oder werden stabil. Einige wenige haben ein offenes Ende, besonders dann, wenn sie mit anderen Figuren in Interaktion treten. Größere Eröffnungsmuster könnten also denkbar.«

»Cal!« rief sie. »Willst du sagen, daß dieses kleine Punktespiel. das Funkenmuster.«

Er nickte. »>Leben< ist ein einfacher zweidimensionaler Vorgang, der nichtsdestoweniger gewisse Ähnlichkeiten mit der Molekularbiologie unseres lebendigen Lebens aufweist. Nimm mal an, dieses Spiel würde auf drei Dimensionen ausgedehnt und auf einem unendlich großen Spielfeld abgewickelt!«

Sie schüttelte den Kopf, so daß ihr Haar verführerisch ins Fliegen geriet. Hatte sie diese Geste von Tamme übernommen? »Es wäre immer noch vorherbestimmt.«

»So wie wir vorherbestimmt sind, gewissen Philosophien zufolge. Aber es wird unerhört schwierig, den Weg vor dem Faktum aufzuzeichnen. Nimm an, auf unserem Spielfeld wäre eine ganze Anzahl von Formen vorhanden, die miteinander in Interaktion treten!«

»Wenn ihre Muster zu groß geworden wären, würden sie sich gegenseitig durcheinanderbringen. Es läßt sich nicht sagen, was dann geschehen würde.«

Sie machte eine Pause, als seine Worte einsanken.

»Es wäre immer noch durch die Anfangsfiguren und ihre Beziehungen zueinander auf dem Spielfeld vorherbestimmt - aber zu kompliziert, um ohne einen Computer vorausgesagt werden zu können. Vielleicht gibt es keinen Computer, der diese Aufgabe erfüllen kann, wenn das Feld groß genug und die Figuren zu involviert wären. Es könnte alles mögliche passieren.«

»Und wenn es in vier oder fünf Dimensionen existieren würde?«

Sie spreizte die Hände. »Ich bin kein Mathematiker. Aber ich könnte mir vorstellen, daß die Anzahl der Möglichkeiten die von organischen Prozessen erreicht. Wie du schon festgestellt hast, sind Enzyme letzten Endes in gewisser Weise wie kleine Schalter auf der Molekularebene, für die Lebensprozesse jedoch unentbehrlich. Warum keine Punktmuster-Enzyme, die sich.«, sie legte abermals eine Pause ein, ».zu belebten Funkenwolken heranbilden!«

»Wir könnten also etwas haben, was auf unabhängige Einheiten mit freiem Willen hinausläuft«, schloß er. »Ihre Wege mögen durch ihre Anfangskonfiguration und ihr System vorherbestimmt sein - aber das trifft auch auf uns zu. Wir stellen sie uns besser als potentiell intelligent vor und gehen entsprechend mit ihnen um.«

»Was bedeutet, daß wir eine Verständigungsmöglichkeit mit ihnen herstellen müssen«, sagte sie. »Es war ein gewaltiger geistiger Schritt, aber ich weiß endlich, was du überhaupt meinst.«

Sie blickte auf das komplexe Durcheinander ihres R- Pentomino und blies die Backen auf.

»Das ist gut«, sagte er. »Weil wir nämlich diese Maschine brauchen - und du scheinst in der Lage zu sein,

sie zu kontrollieren. Bring sie zum Auditorium.«

Aquilon warf sich vor der Maschine in eine dramatische Pose. »Komm!« kommandierte sie und machte dabei eine befehlende Geste.

Und sie kam.

»Weißt du«, vertraute sie ihm auf dem Weg an, »das macht mir ziemlichen Spaß.«